2019-08-23: Das Schulbuch wird digital
Wissenschaftler der Uni Siegen haben ein digitales Wirtschafts-Schulbuch entwickelt. Der Einsatz in Schulen läuft bereits erfolgreich.
Carlotta ist 15 Jahre alt und Präsidentin  des Arbeitgeberverbands der Großbäckereien in Deutschland – zumindest  virtuell für einen Tag. Die Schülerin simuliert in ihrer Klasse eine  Tarifverhandlung. Sie und ihre MitschülerInnen sind in drei Gruppen  aufgeteilt: in die Gewerkschaft, den Arbeitgeberverband der  Großbäckereien und den Zentralverband des Deutschen Handwerks. Das  besondere an der Simulation: Sie findet digital statt. Jeder Schüler und  jede Schülerin hält ein Tablet in der Hand. Die Geräte sind mit dem  Schul-WLAN verbunden und untereinander verknüpft. „Es ist ein riesiger  Unterschied, ob man 0,25 Prozent oder fünf Prozent mehr Gehalt fordert.  Das Ausmaß der Konsequenzen wird den Schülern aber oft erst klar, wenn  sie die Unternehmensdaten beobachten können“, sagt Dr. Michael Schuhen.  Er arbeitet und forscht am Zentrum für ökonomische Bildung (ZöBiS) der  Universität Siegen. Auf dem Display kann Carlotta in Tabellenansicht  direkt nachvollziehen, was sich unter welchen Umständen wie ändert: Wenn  sie den Lohn für die Beschäftigten erhöht, müssen die Brötchenpreise  steigen. Dadurch sinkt aber die Nachfrage. Unter welchen Bedingungen  kann sie auf die Forderungen der Gewerkschaft eingehen, ohne einen  Gewinneinbruch zu erleiden?
Weg vom Frontalunterricht    
Das  Rollenspiel ist Teil eines digitalen Wirtschafts-Schulbuchs namens  „Econ EBook“, das Dr. Michael Schuhen mit seinem Kollegen Manuel  Froitzheim entwickelt hat. Es bildet den vorgeschriebenen Lehrplan in  NRW ab. Anders als bei traditionellen Schulbüchern setzt Schuhen aber  nicht mehr auf Frontalunterricht. Im Vordergrund stehen Experimente,  ökonomische Szenarien und der Reflexionsprozess. „Es geht hier nicht  darum, Schulbücher zu digitalisieren, zum Beispiel als pdf-Datei zum  Scrollen. Das konnte man schon in den 90er-Jahren umsetzen“, stellt  Schuhen klar. Vielmehr wollen die Forscher neue Formen des Lehrens und  Lernens schaffen. „Wir wollen, dass die Schülerinnen und Schüler  Wirtschaftsprozesse erleben und nutzen deshalb viele Simulationen und  Rollenspiele, um Lerninhalte zu vermitteln“, so Manuel Froitzheim.
Früher  – und teilweise noch heute – mussten LehrerInnen für Rollenspiele  Material ausdrucken, Kärtchen ausschneiden und austeilen. Nach einem  Durchgang mussten die Kärtchen neu sortiert werden. „Wir wollen durch  die Digitalisierung die LehrerInnen nicht nur im Unterricht, sondern  auch in der Vor- und Nachbereitung unterstützen“, erklärt Schuhen. Durch  die Tablet-Version des Rollenspiels können die LehrerInnen digital den  SchülerInnen Rollen zuteilen. Dadurch gewinnen sie Zeit. Gleiches gilt  für die Hausaufgabenkontrolle: Die LehrerInnen sehen, welche  SchülerInnen die Hausaufgaben nicht gemacht haben. Im analogen  Unterricht verbringen LehrerInnen oft fünf Minuten damit, zu  kontrollieren, wer die Hausaufgaben bearbeitet hat und ob es typische  Fehler gab. Diese Zeit kann jetzt anders genutzt werden, zum Beispiel  für Reflexion und Diskussionen. „Häufig verfestigt sich Wissen erst,  wenn man reflektiert über ein Thema spricht. Umso wichtiger ist es,  dafür genügend Zeit zu haben“, erklärt Schuhen. „Und auch die  Hausaufgaben lassen sich nun gezielt besprechen“, so Manuel Froitzheim,  „da diese vielfach bereits vorausgewertet werden können und der Lehrer  so auf einen Blick häufige Bearbeitungsfehler seiner Schüler erkennt.“
LehrerInnen stehen weiter im Mittelpunkt des Unterrichts    
Einige  haben Bedenken, dass durch die Digitalisierung die LehrerInnen in den  Hintergrund rücken, sagen die Wissenschaftler. Das sei aber ganz und gar  nicht ihre Herangehensweise. „Der Lehrer steht immer im Zentrum des  Unterrichtsgeschehens.“ Es sei ein Trugschluss, dass die SchülerInnen  nur noch vor ihrem Tablet sitzen. Die Geräte würden eingesetzt, wenn sie  einen Mehrwert bringen, sonst nicht.     
Wer den digitalen  Schritt wagt, wird mit vielen Vorteilen belohnt: GPS und  Echtzeitanzeigen sind zwei davon. Durch GPS kann das digitale Schulbuch  dem Ort der Schule zugeordnet werden. Wenn im Unterricht zum Beispiel  das Thema Oligopol besprochen wird, können die SchülerInnen die  Tankstellenpreise in der Region in Echtzeit beobachten und diskutieren,  um welche Marktform es sich in der Branche handelt.     
Durch  die digitale Unterrichtslösung können die LehrerInnen außerdem  spielerische Tests im Quizformat durchführen. Wenn sie dabei merken,  dass 80 Prozent der SchülerInnen ein und dieselbe Aufgabe falsch gelöst  haben, wissen die LehrerInnen: Das Thema sollte im Unterricht noch  einmal besprochen werden. Im analogen Unterricht würde so etwas erst  nach einer Klausur offensichtlich werden – zu spät.
Funktioniert der digitale Unterricht überhaupt mit dem WLAN meiner Schule?    
Etwa  3.000 NutzerInnen – darunter LehrerInnen, SchülerInnen und Studierende –  begleiten Michael Schuhen und sein Wissenschaftlicher Mitarbeiter  Manuel Froitzheim für den voll digitalisierten Unterricht vor allem in  NRW, Hessen und Rheinland-Pfalz: Dazu zählen Vorbereitung, Durchführung  und Nachbereitung. Am Anfang – im Jahr 2015 – saßen sie über Wochen im  Unterricht, für den Fall, dass Probleme auftreten. Mittlerweile führen  viele LehrerInnen den Unterricht selbstständig durch.
Digitale  Bildung kann Tücken haben – das weiß Schuhen. Er weiß auch, dass es  wichtig ist, die möglichen Probleme zu thematisieren, weil erst dadurch  die Akzeptanz für die Digitalisierung entstehen kann. Funktioniert mein  digitaler Unterricht überhaupt mit dem WLAN meiner Schule? Und was mache  ich, wenn es plötzlich ausfällt? „Keiner bereitet sich doppelt vor für  den Fall der Fälle, dass das WLAN doch mal hakt. Das heißt: Die Lehrer  müssen entweder drauf eingestellt sein, im Notfall zu improvisieren oder  das technische Problem lösen zu können“, sagt Schuhen.
Generell  fordert er, ausgebildete InformatikerInnen mehr mit LehrerInnen und  FachdidaktikerInnen zusammenzubringen. „Momentan müssen wir in den  Schulen erstmal Laptops und Tablets ans Laufen bringen“, sagt der  Wissenschaftler. An der Situation werde sich aber dank des DigitalPakts  Schule sehr bald etwas ändern. Mit dem DigitalPakt Schule wollen Bund  und Länder für eine bessere Ausstattung der Schulen mit digitaler  Technik sorgen. Insgesamt stehen fünf Milliarden Euro über fünf Jahre  zur Verfügung.
Kontakt
Michael Schuhen, Zentrum für ökonomische Bildung in Siegen
schuhen@zoebis.de
Manuel Froitzheim, Zentrum für ökonomische Bildung in Siegen
froitzheim@zoebis.de 
Text und Bilder: Nora Frei


