2018-01-17: Wirtschaft als Schulfach?
Wirtschaft als Pflichtfach in der Schule – sinnvoll oder mit fatalen Folgen? Auf einer Podiumsdiskussion an der Uni Siegen diskutierten Experten.
Sollte das Schulfach Wirtschaft eingeführt werden, so wie es die  Landesregierung in Nordrhein-Westfalen (NRW) vorhat? Ist es eine  gesellschaftliche Notwendigkeit, dass Schüler eine ökonomische Bildung  erhalten? Oder verfestigt sich damit eine kapitalistische Ideologie? Das  diskutierten Experten an der Uni Siegen. Die „Pro-Seite“ wurde  vertreten durch den Siegener Wirtschaftswissenschaftler Professor Dr.  Jürgen Schlösser und den FDP-Landtagsabgeordneten Alexander Brockmeier.  Auf der „Contra-Seite“ standen der Siegener Politikwissenschaftler Dr.  Christian Zimmermann und Sozialwissenschaftler Professor Dr. Tim  Engartner von der Goethe-Universität Frankfurt.
„Betriebswirtschaftslehre  ist auf Gewinnmaximierung ausgelegt. Die Schule ist ein Schutzort und  nicht dafür da, Schüler auf eine kapitalistische Konkurrenzgesellschaft  vorzubereiten, ohne Solidarität und Blick auf das Gemeinwohl“, erklärte  Zimmermann in seinem Anfangs-Plädoyer. Wirtschaft ohne politischen und  historischen Kontext zu lehren, käme einer pädagogischen Kapitulation  gleich. Engartner stimmte zu, dass es zur wirtschaftlichen  Urteilsbildung Sachverstand brauche, es aber nicht Aufgabe der  Schulbildung sei, dieses Verständnis zu schaffen.    
„Natürlich  wollen wir das Fach nicht entpolitisieren. In Zeiten von Trump und  Brexit wäre das fatal. Aber wir erkennen die Realität an“, konterte der  FDP-Abgeordnete Brockmeier. „Schüler müssen auch außerhalb des  Schutzortes Schule klarkommen.“ Versicherungspolicen, Miet- oder  Handyverträge – die Schule dürfe ruhig Lebenstüchtigkeit und  Verbraucherwissen vermitteln. Schlösser ergänzte: „Informelles Lernen  findet oft außerhalb der Schule statt.“ Das Problem sei:  Einkommensschwache Familien sprechen selten oder gar nicht über Geld,  Kinder von einkommensstarken Familien wiederum erhalten von ihren Eltern  eine finanzielle Bildung. „Damit verfestigen sich die Schichteffekte“,  sagte Schlösser. „Mit einem Schulfach Wirtschaft fordern wir  gleichzeitig auch ökonomische Bildung für alle, um diesen Teufelskreis  zu durchbrechen.“
„Das Schulfach Wirtschaft hat nichts mit Lobbyismus zu tun“    
Engartner  und Zimmermann befürchten, dass externe Lehrkräfte aus Unternehmen und  ohne pädagogische Fähigkeiten die Schüler unterrichten. „Wir sehen in  anderen Bundesländern, wie das Fach unterwandert wird. Wirtschaft darf  kein Schulfach der Wirtschaft sein. Die Schule muss ein neutraler Ort  bleiben“, sagte Engartner. Die „Pro-Seite“ widersprach dem. „Das  Schulfach Wirtschaft hat nichts mit Lobbyismus zu tun“, meinte  Schlösser. „Wir möchten die Schüler nicht auf den kapitalistischen  Marktdschungel vorbereiten, wie die Gegenseite es oft behauptet.“
Ganz  im Gegenteil: Die „Pro-Seite“ möchte Schüler zu mündigen Bürgern  ausbilden, die strukturelle Zusammenhänge verstehen, und dieses  Verständnis für ihr Handeln und für Entscheidungen nutzen können. Dazu  gehöre natürlich, die Themen Ökologie und Nachhaltigkeit zu  thematisieren. Außerdem müssten auch alternative Gesellschafts- und  Wirtschaftssysteme neben der parlamentarischen Demokratie und der  sozialen Marktwirtschaft besprochen werden. „Es ist ganz wichtig,  Marktordnungen kritisch zu hinterfragen“, erklärte Schlösser. Dafür  brauche es aber Grundlagenwissen.
„Wirtschaft verstärkt die Ego-Gesellschaft“    
Um  zu vermeiden, dass Lehrkräfte aus Unternehmen fürs Klassenzimmer  rekrutiert würden, gäbe es eine entscheidende Voraussetzung: „Wir  brauchen Lehrer mit einem Fachstudium in Wirtschaft“, forderte  Schlösser. „Nur so können wir ein Pflichtfach Wirtschaft in der Schule  etablieren. Wenn wir Ökonomie mal hier und dort in allen Fächern  oberflächlich behandeln, dann erziehen wir nur eloquente Ignoranten.“
Die  „Contra-Seite“ wollte das nicht stehenlassen. Ihre Befürchtung:  Wirtschaft verstärke die heutige Ego-Gesellschaft. Das Individuum als  Unternehmen und Selbstoptimierung als höchstes Gut – das sei völlig  kontraproduktiv. „Warum versucht die Politik, dieses Schulfach  durchzubringen?“, fragte Zimmermann. Sie sollte sich den realen Ängsten  der Hauptschüler annehmen, die häufig erst ein Jahr nach ihrem  Schulabschluss eine Ausbildung finden. Brockmeier berichtete aus seiner  Erfahrung im Kontakt mit Arbeitgebern. „Die Ansprüche auf Auszubildende  und Fachkräfte steigt. Viele Unternehmen wünschen sich Bewerber, die  wirtschaftliche Grundkenntnisse besitzen. Mit einem verpflichtenden  Schulfach könnte man diesen Störfaktor beheben.“
Welches Fach soll sterben, damit wir Wirtschaft einführen können?    
Eine  Frage blieb bis zum Schluss offen. „Es muss ein Fach sterben, wenn wir  Wirtschaft einführen wollen. Welches soll das sein?“, fragte die  „Contra-Seite“ wiederholt. „Die Fächer Politik und Geschichte dürfen  nicht darunter leiden, wenn wir Wirtschaft einführen“, betonte  Brockmeier. Eine klare Antwort auf die Frage blieb allerdings aus. „Im  Zuge der G9-Einführung haben wir die große Chance, in NRW Wirtschaft  einzuführen und idealerweise kein Fach zu verdrängen.“
Das  Publikum durfte im Anschluss an die Diskussion abstimmen. Die deutliche  Mehrheit sprach sich gegen das Fach Wirtschaft aus. Die  Podiumsdiskussion wurde von der Schulleiterin des Evangelischen  Gymnasiums Siegen-Weidenau, Beate Brinkmann, moderiert. Organisiert  wurde sie vom Fachschaftsrat für Geistes- und  Gesellschaftswissenschaftliche Lehramts-, Bachelor- und  Masterstudiengänge in Kooperation mit der Gewerkschaft Erziehung und  Wissenschaft (GEW).
Text und Abbildungen: Nora Frei

